Ein schwedisches Märchen
An einem schönen Sommertage war um die Mittagszeit eine Stille im Wald eingetreten. Die Vögel steckten ihre Köpfe unter die Flügel. Alles ruhte.
Da reckte der Buchfink sein Köpfchen hervor und fragte: "Was ist eigentlich das Leben?" Alle waren betroffen über diese schwierige Frage.
Die Rose entfaltete gerade ihre Knospe und schob behutsam ein Blatt nach dem anderen heraus. Sie sprach: "Das Leben ist eine Entwicklung."
Weniger tief veranlagt war der Schmetterling. Lustig flog er von einer Blume zur anderen, er sagte: "Das Leben ist lauter Freude und Sonnenschein."
Drunten am Boden schleppte sich eine Ameise mit einem Strohhalm, zehnmal länger als sie selbst, und war der Meinung: "Das Leben ist nichts anderes als Mühe und Arbeit."
Geschäftig kam eine Biene von einer honighaltigen Blume zurück und wisperte: "Das Leben ist ein Wechsel von Arbeit und Vergnügen."
Wo so weise Reden geführt wurden, steckte der Maulwurf seinen Kopf aus der Erde und sagte: "Das Leben ist ein Kampf im Dunkeln."
Es hätte nun fast einen Streit gegeben, wenn nicht ein feiner Regen eingesetzt hätte, der war der Ansicht: "Das Leben besteht aus Tränen, nichts als Tränen."
Dann zog er weiter zum Meer. Dort brandeten die Wogen und warfen sich mit
aller Gewalt gegen die Felsen und stöhnten: "Das Leben ist ein stets vergebliches Ringen nach Freiheit."
Hoch über ihnen zog majestätisch ein Adler seine Kreise, der frohlockte: "Das Leben, das Leben ist ein Streben nach oben."
Nicht weit davon stand eine Weide, die hatte der Sturm schon zur Seite gebogen. Sie ächzte: "Das Leben ist ein Sichneigen unter eine höhere Macht."
Dann kam die Nacht.
Mit lautlosem Flug glitt ein Uhu durch das Geäst des Waldes und krächzte: "Das Leben heißt: die Gelegenheit nutzen, wenn die anderen schlafen."
Und schließlich wurde es still im Wald.
Nach einer Weile ging ein junger Mann durch die menschenleeren Strassen nach Hause; er kam von einer Lustbarkeit und murmelte vor sich hin: "Das Leben ist das ständige Suchen nach Glück und eine Kette von Enttäuschungen."
Auf einmal stand die Morgenröte in ihrer vollen Pracht auf und sprach: "Wie ich, die Morgenröte, der Beginn des kommenden Tages bin, so ist das Leben der Anbruch der Ewigkeit."