Es war schon nach 22 Uhr, als eine schwere Gestalt mit großem Hut und weitem Umhang vor der Tür eines kleinen schiefen Hauses am Ende des Hafenviertels stand. Es roch nach Essen vor diesem Haus und aus den Fenstern leuchtete ein warmer gelber Lichtschein, der den Schatten der Person vor der Türe riesig werden ließ. Die Person drehte ihren Kopf mehrmals zur Seite, als wollte sie sicher sein, dass niemand sie beobachtete. Dabei konnte man sehen, dass sie ihre Haare am Hinterkopf zu einem Zopf geflochten hatte. Auf dem großen schwarzen Hut leuchtete ein weißer Totenschädel und unter dem Umhang blitzte es kurz auf.
Glaubt mir, jedes Kind im Hafen hätte sofort gewusst, dass dieses Blitzen nur von einem Säbel kommen konnte. Aber, es sah niemand, – und das war auch besser so.
[Wisst ihr vielleicht warum?]
Die dunkle Gestalt hob nun ihren rechten Arm und klopfte 13x leise und in einem besonderen Rhythmus an die Tür. Ungefähr so: tock-tock-tock — tock-tock-tock — tock-tock-tock — Tock—-Tock—-Tock—-Tock.
[Warum klopfte sie wohl so?]
Gleich darauf hörte man eine tiefe Stimme aus dem Haus etwas brüllen, was von der Straße jedoch nur schlecht zu verstehen war. Es war irgend etwas in der Art: "… alle … osen raufaufs Deck! … A-machen zum Gefecht. Wir … achen keine … efangenen!" Dann folgte lautes Poltern und wildes Geschrei, als wären die sieben Zwerge gerade beim Achterbahnfahren. [Was meint ihr, was da los war?]
Doch dann wurde das Licht im Haus gelöscht und war es plötzlich mucksmäuschenstill. Nur eine Hafenratte hätte das Flüstern im Innern des Hauses vielleicht noch gehört.
Die dunkle Gestalt vor der Tür klopfte erneut, diesmal nur 7x, dafür etwas fester als zuvor: Tock-Tock—-Tock-Tock—-Tock-Tock———-Tock!
Nichts regte sich im Haus. "Na gut, ihr habt es nicht anders gewollt!" rief die Person auf der Straße. "Wenn ihr nicht öffnet, werde ich mir selbst Eintritt verschaffen!" Unter ihrem Umhang zog sie nun einen … einen …
[wisst ihr auch, was sie unter ihrem Umhang hervorholte?] …
… unter ihrem Umhang zog sie einen schweren Seesack hervor und begann gleich heftig darin zu wühlen. Ohne den Sack unter dem Umhang wirkte die Gestalt zwar nicht mehr so gewaltig – eher etwas mager – aber nun waren ihre Umrisse eindeutig zu erkennen. Es waren die, eines Piraten.
"Rattenpestkanonenpotzdonnernochmal! Muss das Ding denn immer ganz unten am Boden des Beutels liegen?"…fluchte es hinter dem Umhang hervor. Doch dann kamen freundlichere Worte und dieser Jemand zog ein gebogenes Stück Eisen hervor.
[könnt ihr euch denken, was das war?]
Das Ding wurde leise ins Schlüsselloch der Tür gesteckt und vorsichtig umgedreht. Als die Türe sich öffnete, gab sie ein furchtbares Knarzen und Knarren von sich, dass es einem durch Mark und Bein fuhr. Sonst war nichts zu hören. Die Gestalt trat langsam ein. Hinter ihr schloss sich geräuschvoll und wie durch Geisterhand von alleine die Tür. Dann war es wieder so still, dass man hätte eine Motte husten hören können.
In der Wohnung war es finster. Nur der Schein der Straßenlaterne schien fahl von draußen durchs Fenster und ließ die Umrisse der Möbel ein wenig erkennen. Ein feiner Duft von Fischfilet, Zwiebeln, Kräutern und Bratkartoffeln erfüllte den Raum und gelangte so in die Nase der finsteren Gestalt und betäubte ihre Sinne. Lang hatte sie wohl auf hoher See nichts so Feines mehr gerochen, dass sie nun vor lauter Riechen einen Moment lang die Aufmerksamkeit verlor. Hmmm!
Da geschah es!
[Was passiert jetzt wohl?]
Ein lauter greller Schrei zerriss die Stille. "Aaaangriff!" schallte es durch die Dunkelheit. Mit einem Satz sprang etwas von hinten auf den Buckel der Gestalt. Von rechts und von links packten sie kleine Hände und grabschten sich unter johlendem Geschrei an ihrem Umhang hoch. "AAAAANGRIFF!" rief die Stimme wieder, und dann "Entert den Kahn!" Dann ging das Licht an und vor ihr stand ein bärbeißiger Mann mit Vollbart, Augenklappe, einem Seejungfrau-Tattoo auf dem Oberarm, Holzbein und Kochschürze – und in der Hand hielt er einen …
[na, was meint ihr?]
…nee, einen Kochlöffel! Auf dem Rücken der Gestalt flatterte aufgeregt ein grüner Papagei, der immer wieder zum Angriff und Entern aufrief und erst Ruhe gab, als er es endlich geschafft hatte, den Piratenhut vom Kopf runter zu zerren. Jetzt konnte man es genau sehen. Die dunkle Gestalt war eine Frau. In ihren Armen hielt sie einen Jungen und ein Mädchen, die sich an sie kuschelten und riefen "Mama … wir haben dich so vermisst!" Bald nahm ihr der Mann den Umhang ab und hing ihn an den Haken. Er gab er ihr einen schmatzenden Kuss und umarmte sie ganz fest. "Schön, dass du wieder zuhause bist, Schatz," brummte er. "das Essen ist gleich fertig und dann wirst du uns von deinen Abenteuern berichten müssen. Wir sind schon ganz gespannt, wie viel du diesmal erbeutet hast."
Ihr wundert euch, aber es ist wahr. Die dunkle Gestalt hieß Mara, war eine Piratenmama und daher oft wochenlang auf See. Nun war sie nach einer aufregenden Schatzsuche wieder zuhause, bei ihrem Mann und den Kindern, die sie nach alter Seeräubertradition begrüßten.
Ihr könnt euch denken, dass das Abendmahl genauso spannend wurde, wie die Begrüßung.
Später saßen sie bei Öllampenschein in der Küche und lauschten den Geschichten der Piratin Mara, Kapitän der "Black Mary", eines der gefürchtetsten Schiffe unter Piratenflagge. Wie sie Old Knife Henry – seines Zeichen ebenfalls Pirat – am Kap der fiesen Wellen abgehängt hatte und drei Tage vor ihm die Schlangeninsel erreichte. Sie berichtete von der Suche nach der geheimen Grotte, in der sie dann den Schatz von Naodusin gefunden hat. Und als sie die mit Gold gefüllten Kisten vorbei an gefährlichen Fallen aufs Schiff bringen wollte, hatte sie von einem Felsen aus gesehen, dass Old Knife Henry mit seinem Schiff in einer anderen Bucht angekommen war. Das Gelächter war groß, als Mama erzählte, wie sie dann Old Knife Henry in der Nacht unbemerkt einen Knoten in den Anker gemacht hatte und er mit seinem Schiff nicht mehr ablegen konnte.
Bis spät in die Nacht saßen sie beisammen und hörten wundersame Geschichten.
"Nimmst du mich das nächste mal mit, wenn du auf Schatzsuche gehst, Mama?" fragte das kleine Mädchen flüsternd. Ihr Bruder war schon längst auf der Küchenbank eingeschlafen und schnarchte leise vor sich hin. "daran habe ich auch schon gedacht, meine Perle", sagte Mama und strich ihr sanft die Haare aus der Stirn. Dann schloss auch Lene Piratentochter ihre Augen und schlief ein.
Fortsetzung (eigenständige Geschichte):
geschrieben von Burkhard Wilhelm