Ein Märchen aus Flandern
Es war einmal eine alte Frau, die hieß Elend. Sie besaß nichts als einen Apfelbaum, und auch dieser Apfelbaum machte ihr mehr Kummer als Freude. Wenn die Äpfel reif waren, kamen die Lausbuben aus dem Dorf und stahlen sie vom Baum. Das ging so Jahr um Jahr, als eines Tages ein alter Mann mit einem langen weißen Bart an Elends Tür klopfte.
"Liebe Frau", bat er, "gib mir ein Stück Brot." "Du bist auch eine armselige Kreatur", sagte Elend, die immer großes Mitleid mit anderen Menschen hatte, obwohl sie selbst nichts besaß. "Hier ist ein halber Laib, nimm ihn; mehr habe ich nicht, lass ihn dir schmecken, ich hoffe, er stärkt dich ein wenig." "Weil du so gütig bist, hast du einen Wunsch frei", sagte der alte Mann. "Ach", seufzte die alte Frau, "ich habe nur einen einzigen Wunsch! Jeder, der meinen Apfelbaum anrührt, soll daran kleben bleiben, bis ich ihn erlöse. Es ist einfach unerträglich, dass mir immer alle Äpfel gestohlen werden." "Dein Wunsch wird in Erfüllung gehen", sagte der alte Mann und ging seines Wegs.
Zwei Tage später ging Elend hin, um nach ihrem Baum zu sehen; an seinen Ästen hingen und klebten zahllose Kinder, Dienstboten und Mütter, die gekommen waren, um ihre Kinder zu retten, Väter, die versucht hatten, ihre Frauen zu retten, zwei Papageien, die aus ihrem Käfig entflogen waren, ein Hahn, eine Gans, eine Eule, verschiedene andere Vögel und auch eine Ziege. Bei diesem erstaunlichen Anblick brach Elend in lautes Gelächter aus und rieb sich vor Freude die Hände. Sie ließ sie alle noch ein Weilchen dort hängen, bevor sie sie schließlich befreite. Die Diebe hatten ihre Lektion gelernt und stahlen nie wieder Äpfel von ihrem Baum.
Einige Zeit war vergangen, da klopfte es eines Tages wieder an der Tür der alten Frau. "Herein", rief sie. "Was glaubst du, wer ich bin", sagte eine Stimme. "Ich bin der Gevatter Tod. Hör zu, Mütterchen", fuhr er fort, "du und dein alter Hund, ihr habt lange genug gelebt; ich bin gekommen, um euch beide zu holen." "Du bist allmächtig,", sagte Elend, "ich werde mich deinem Willen nicht widersetzen. Aber erlaube mir noch einen Wunsch, bevor ich meine Sachen packe. An dem Baum dort drüben wachsen die wunderbarsten Äpfel, die du je gekostet hast. Wäre es nicht ein Jammer, wenn du gehen würdest, ohne einen einzigen Apfel zu pflücken?" "Weil du mich so freundlich bittest, werde ich mir einen holen", sagte der Tod, und das Wasser lief ihm im Mund zusammen, als er zu dem Baum ging. Er kletterte in die höchsten Zweige des Baumes, um einen großen rosigen Apfel zu pflücken, doch kaum hatte er ihn berührt, blieb er mit seiner langen knochigen Hand an dem Baum kleben. So sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht wieder losreißen. "So, du alter Tyrann, da hängst du jetzt und bist außer Gefecht", sagte Elend. Weil aber der Tod an dem Baum hing, starb niemand mehr. Fiel einer ins Wasser, ertrank er nicht; wurde jemand von einem Wagen überrollt, spürte er es gar nicht; die Leute starben nicht einmal mehr, wenn man ihnen den Kopf abschlug.
Nachdem der Tod, im Winter wie im Sommer und bei jedem Wetter, zehn lange Jahre an dem Baum gehangen hatte, bekam die alte Frau Mitleid mit ihm und erlaubte ihm herunterzukommen – unter der Bedingung, dass sie so lange leben durfte, wie sie wollte. Gevatter Tod ging auf den Handel ein, und das ist der Grund, weshalb die Menschen länger leben als die Spatzen und weshalb es immer Elend auf der Welt gibt und wohl auch bis in alle Ewigkeiten geben wird.