Gegen Ende des Jahres wird das gesamte Personal noch einmal richtig herausgefordert, sich von seiner besten Seite zu zeigen. Denn über die Feiertage kann sich ein jeder ja wieder davon erholen. Allerdings spätestens Mitte November, sozusagen, direkt im Anschluss an die überstandene Laternenparade, beginnt in allen Kindertagesbetreuungseinrichtungen (übrigens ein gutes Wort zum Galgenmännchenspielen, mit 34 Buchstaben!) die gnadenreiche, fröhliche Weihnachtszeit. Das ist immerhin erst zwei Monate später, nachdem man in Kaufhäusern schon Aachener Printen und Nikoläuse bekommt, und daher gibt es keinen Grund zum Murren.
Zum 1. Advent müssen 20 bis 25-teilige Kalenderchen und die festliche Dekoration fertiggestellt sein. Diese verzaubern dann für Kinderseelen wie durch Engelshände über Nacht die Gruppenräume.
In manchen Einrichtungen gibt es regelrechte Design-Konkurrenzkämpfe, z. B. tritt die Schneeflocken – und Eisblümchen-Liga gegen die Wichtel-Zapfen-Männlein-Brigade an. Jede Gruppe möchte vielleicht die Allerschönste sein, wenn man sich den ganzen Zinnober schon ausdenken und mitmachen muss. Ganz schlimm trifft es jedoch diejenigen Gruppenkräfte, die von ihrer Obrigkeit diktiert kriegen, was sie zu basteln haben, wie viel davon und wohin damit. Da passiert es dann schon wie von selbst, dass sich der unterschwellige Ärger der Zwangsarbeiterinnen in eselsohrigen Fröbelsternen oder in grimmig ausschauenden geflügelten Jahresendfiguren widerspiegelt.
Meistens ist alles rechtzeitig fertig zum Beginn der Adventszeit, und das ist gut so, weil die heilige Ochsentour nämlich jetzt erst so richtig losgeht.
Raffinierte Mitarbeiterinnen haben deshalb stets Ende August ihre fertigen Privat-Weihnachtsgestecke und ihre auf das Lieblichste geschmückten Bäumchen im häuslichen Keller parat stehen. Denn für ihre eigenen Belange würden im Dezember sonst das rechte Engagement und die notwendige Zeit fehlen. Gut auch, dass es für das gestresste Kita-Personal Kataloge und telephonische Bestellservice-Unternehmen gibt. So sind sie nicht gezwungen, unter dem ganzen Druck nur einfallslose Geschenke zu machen.
Den Dezember kann man beim deutschen Volke also getrost als die turbulenteste Zeit des Jahres betrachten. Das Industrie-Weihnachten fordert während der Ladenöffnungszeiten den letzten Rest von Energie. Nicht ganz klar ist heute mehr, warum es das Fest der Stille und Besinnlichkeit genannt wird. Und warm ums Herz wird den Menschen oft nur noch vom Punsch mit ordentlich Schuss. Die Fernsehsender scheuen sich nicht, "Das Schweigen der Lämmer" oder "Todesgrüße aus Shanghai" zu zeigen. Gruppenkräfte brauchen keine Fernsehzeitung zu lesen, wenn es ihnen genügt, erst am nächsten Tag über das gelaufene Programm informiert zu werden. Die Info erfolgt verlässlich durch die Kinder, die ihre gewaltigen TV-Eindrücke bei der Schlacht am Waffeleisen und dem Kampf um Kalendertürchen nachträglich verarbeiten. Aber der Brauch verlangt es nun einmal, dass inmitten von Tannen, Glitzer, Kerzen und Marzipanstollen rotbäckige Kinder singen: "Lasst uns froho uhund munter seiiiin".
So soll also gefälligst auch das Personal rechtzeitig zum Fest froh und munter sein. Wenn zu Hause ein Familienkrach tobt oder das Ergebnis einer ärztlichen Untersuchung hätte besser ausfallen können, ist das eben Privatkram der Arbeitnehmerinnen.
Die Eltern können für ihre Beitragsgelder ja wohl ein bisschen romantische Atmosphäre verlangen. Schließlich haben sie selbst zuwenig zeit für diesen Hokuspokus, weil sie das Geld für Berge von Spielzeug verdienen müssen, mit denen sie dann ihre lieben Zöglinge unterm O-Tannebaum überraschen und kurzfristig ruhigstellen werden.
Etwas wirklich Besonderes ist das Weihnachtsfest in multikulturellen Tagesstätten. Was den Türken und Persern piepegal ist, das ist den Deutschen und Russen lieb und teuer. Einerseits möchte man keiner Familie in ihrem kulturellen Hintergrund zu nahe treten und westliche Religion aufzwingen. Andererseits ist es beinahe gesetzlich verankert, dass in jeder guten Einrichtung dem Christentum entsprungene Weihnachts-Traditionen gepflegt werden. (Oder etwa nicht?) Da können schon mal Interessenkonflikte und auseinandergehende Vorstellungen von Brauchtum für angeheizte Stimmung sorgen.
Aber Brauch hin oder her – spätestens an der festlichen Kaffeetafel verständigen sich die Völker wieder bei gemeinsam vertilgten Marzipankartoffeln, Pirischkis, Caj und Glühwein. Mit einer festen Grundlage im Magen sind sogar sonst eher zurückhaltende Eltern schon deutlich zu hören gewesen, wenn alle einträchtig im Chor "Oh du Fröhliche …" schmettern.
Zu einer perfekten Feier wird in Einrichtungen, die etwas auf sich halten, auch stets ein Krippenspiel oder sonst ein Theater aufgeführt. Wie so etwas zustande kommt, dass Kinder sich damit abfinden, dass sie nicht alle das Jesulein sein können oder die böse Hexe im Knusperhaus, das kann kein Außenstehender sehen, weil es weiße Erzieher-Magie ist.
Für das Kita-Personal klingt die Adventszeit von Berufs wegen erst dann aus, wenn der Nikolaustag, kleine interne Feiern, eine große Sause mit Mamas, Ommamas, Papas und ihr eigenes Personalfest stattgefunden hat.
Aber: Dem noch voran geht in vielen Einrichtungen das mehr oder weniger beliebte WICHTELN. Kurz erklärt für Unkundige: Die Namen aller teilnehmenden Wichtel kommen auf geheime Lose, die wiederum gut gemischt aus einem Körbchen gezogen werden. Wen man bewichteln muss, das steht auf dem gezogenen Los. (Wenn man betrügerisch sein erstes Los wieder in den Jack-Pot schmeißt, mit einem verlogenen Seufzer "Hach, da stand ja mein eigener Name drauf!", dann hatte man vielleicht aus Versehen jemand Doofes gezogen!)
Den Wichtelschützling soll man nun den nächsten Monat immer wieder mit Klitzekleinigkeiten überraschen und sich dabei nicht verraten. Dabei zeigen sich einige Kolleginnen in beeindruckender Weise mit Pokerface und legen wahre Lügenbaronqualitäten an den Tag. Diejenigen, die ihrem Geschmack entsprechend bewichtelt werden, sind besonders gut dran. In dieser ereignisreichen Zeit beobachten sie aufmerksamer als sonst ihre Kolleginnen und sie sind vorsichtshalber nett und reizend zu einer jeden, weil ja alle Teilnehmerinnen die möglichen Schenkerinnen sein könnten.
Die Wichtel-Arie trägt dazu bei, dass die stressgeladene Weihnachtszeit etwas aufgelockert wird, weil viel gelacht und sich gefreut wird. Es ist aber auch zu schön, wenn man im Kühlschrank hinter der groben Leberwurst plötzlich eine süß verpackte Kleinigkeit mit einem Namen drauf entdeckt. Wenn es die Situation zulässt, rennt die Entdeckerin mit einem Pulk von Kindern hinter sich durch den ganzen Betrieb und brüllt unüberhörbar:
"Hallo, hallo! Es hat gewichtelt! Im Perso-Kühlschrank!"
Nachdem sich alle fast vier Wochen lang das Gehirn zermartert haben, wer sie haben könnte, wenn man nicht schon einen Verdacht hegt, dann ist die Entwichtelungs-Party geradezu eine Erleichterung. Gewöhnlich findet diese Party in einem Lokal statt oder bei der bedauernswerten Kollegin mit den größten Privatgemächern. Es ist eine spannende Sache, wenn alle feingemacht und frisch onduliert dasitzen und gegen ein aufgesagtes Gedicht ihr Abschlussgeschenk bekommen; natürlich erst, nachdem sie ihren Wichtelsponsor geraten haben. So manch eine hat dabei schon Bauklötze gestaunt.
In lustigen Kollegschaften, in denen die Gefahr besteht, dass Tränen und Rührseligkeiten zutage treten könnten, knallen nach der Enthüllung schnell die Sektkorken und alle stoßen schreiend an. Dabei macht sich oft die ganze Verausgabung der letzten Wochen bemerkbar. Und was befreit mehr, als Lachen und Blödsinnmachen oder sich einfach nur im Kreise von bekannten Gesichtern und Stimmen zu freuen?!
So gesehen war’s das dann mit Advent, Wichteln und Weihnachten für wieder mal ein Jahr. Alle trennen sich beschwingt und gutgelaunt, bevor sie zuhause müde ins Bett fallen. Daraufhin folgen tiefe lange Schlafphasen, ein paar private Feierlichkeiten und haste-nicht-gesehn ein Rutsch ins neue Jahr.